Montag, 21. April 2014

19: Ratgeber zur Schriftlichkeit des 21. Jahrhunderts


Der junge Chatter hier - sei diese Konversation nun echt oder, was eher anzunehmen ist, für eine Funwebsite erstellt worden - hat die Tücken der modernen Schriftlichkeit eindrücklich kennen gelernt. Kommunikation verläuft erfolgreich, wenn die Gesprächspartner die Ziele erreichen, die sie mit ihrer kommunikativen Aktivität verfolgen. Manchmal wollen wir einfach nur plaudern, "damit geplaudert ist", aber gelegentlich möchten wir auch Informationen vermitteln, Emotionen auslösen, erklären, überzeugen etc. Dafür muss man sich auf die richtige Art und Weise verständlich machen. Schon im Gespräch von Angesicht zu Angesicht tun wir uns damit aber immer wieder mal schwer. Im schriftlichen Kanal ist das noch einmal eine Stufe anspruchsvoller. Und heutzutage verläuft bekanntlich sehr viel Kommunikation schriftlich - besonders per Chat, SMS oder E-Mail. Das bringt Herausforderungen mit sich, und die will ich heute behandeln und anhand meines Wissens aus der Verständlichkeitswissenschaft kommentieren.

Schriftliche Sprache bietet verschiedenste Stolpersteine auf dem Weg zu kommunikativen Zielen. Die oberste Verständlichkeitsproblemebene ist bei Texten die Leserlichkeit (legibility). Ja, handschriftliche Dokumente sind bei Chat, SMS und E-Mail nicht zu erwarten. Deswegen zeigen sich die Leserlichkeitsprobleme hier in leicht anderer Form: Man vertippt sich schnell einmal, und die unvollständige oder orthographisch fehlerhafte Nachricht bleibt - auch wegen unserer jeweils-ganze-Wörter-scannenden Gehirne - oft unbehelligt und ist dann auf Knopfdruck schnell versandt, besonders bei spontanen Chat- oder SMS-Nachrichten (nicht vergessen: Eiiigentlich kann man nicht "SMS verschicken", denn das Akronym "SMS" steht für "short message service". Wer will den gleich den ganzen Dienst versenden? Aber was soll's, diese metonymieähnliche Sprachkreation ist längst fest in der deutschen Sprache verankert - während man etwa in englischsprachigen Gebieten stets korrekt von "text messages" spricht.). Bei E-Mails (eigentlich auch falsch: "Mail", genau wie das deutsche Pendant "Post", kennt keinen Plural. "E-Mails" hat sich der Einfachheit halber durchgesetzt...) ist aufgrund der meist längeren Textkörper diesbezüglich auch auf eine annehmbare, übersichtliche Darstellung mit gut platzierten Absätzen zu achten - nicht nur bei Geschäftskorrespondenz! Es geht bei der Verwendung von Paragraphen ja nicht in erster Linie um ein professionell aussehendes Textbild, sondern um das Begünstigen der Verständlichkeit.

Danach folgt als nächste Ebene die Lesbarkeit (readability). Hierbei geht es um die Wortlänge, die Satzlänge und die syntaktische Komplexität (Satzschwierigkeit). Im Allgemeinen kann ja gesagt werden, dass schriftliche Texte Resultate von tieferer Reflexion sind als spontane mündliche Äusserungen und deshalb dazu neigen, längere Wörter und komplexere Sätze zu beinhalten. Aber beim Chatten und "Simsen" bleibt die spontane Note grösstenteils vorhanden. Die Schweiz ist da ein Spezialfall, da sie mit dem Dialekt sogar eine eigene Sprachvarietät hat, die fast ausschliesslich für den alltäglich- spontanen Sektor reserviert ist. Meist sind Chat- und SMS-Nachrichten kurz und simpel und beinhalten rein grammatisch manchmal nicht ganz einwandfreie Satzstrukturen, die für die mündliche Sprache charakteristisch sind und das Verständnis kaum behindern. Wer etwas elaborierter schreibt, achte auf folgende potenzielle Verständniserschwerer:

WORTEBENE 
Erschwerer: Ungebräuchliche Wörter (z.B. veraltete), Fremdwörter, Fachwörter, Abkürzungen, Akronyme, Komposita (möglichst nicht mehr als 3 Basisteile, sonst auflösen: z.B. Textverständlichkeitskonzeption -> Konzeption der Textverständlichkeit), Nominalisierungen (abgeleitet aus Verb, bezeichnet Tätigkeit/Prozess statt Gegenstand, z.B. unterscheiden – Unterscheidung, bewerten - Bewertung)

SATZEBENE
Erschwerer: Sachlogische Reihenfolge nicht eingehaltenVerbklammern/Umklammerungen (Verb auseinandergerissen), zuviel Info zwischen zusammengehörigen Satzteilen, Füllfloskeln (statt "zu einem späteren Zeitpunkt" -> später, statt "ein Ding der Unmöglichkeit" -> unmöglich), Nominalphrasen (Nomen mit zu vielen Adjektiven und Adverbialen drumherum), implizite Verknüpfungen (worauf beziehen sich Pronomen etc.)

Aber Achtung: Auf diese Dinge sollen Sie achten, Sie brauchen sie nicht gleich aus Ihrem Sprachgebrauch zu verbannen; besonders rhetorisch können sie teilweise wichtig sein! 

Die dritte und unterste Ebene ist die Verständlichkeit (comprehensibility). Sie betrifft den Inhalt und hängt ab von Vorwissen, Motivation, Ausbildung, Alter etc. der Leserschaft. Da man den Chat- oder SMS-Partner aber in der Regel gut genug kennt, kann man sich eine detaillierte Adressatenanalyse und entsprechende Massnahmen im Normalfall sparen. Dennoch gilt im Allgemeinen: Denken Sie immer ausreichend an Ihr Zielpublikum und dessen Voraussetzungen, wenn Sie etwas schreiben!

Zum Abschluss noch ein paar Tipps: 
-Überfliegen Sie Ihre Nachrichten, bevor Sie beiläufig auf "Senden" klicken/tippen!
-Beim Schreiben fehlt Ihnen das paralinguistische Inventar (Mimik, Gestik, Intonation etc.). Versuchen Sie zu erkennen, wie man Ihre Äusserungen ohne diese Mittel falsch verstehen könnte. Lesen Sie zum Beispiel mal den folgenden Satz mehrmals, und betonen Sie dabei jedes Mal ein anderes Wort: "Ich habe dir das Geld nicht gestohlen!". 
-Unterschätzen Sie bei informellen Nachrichten nicht die Vorteile von Emoticons, die die Mimik teilweise ersetzen können.
-Seien Sie explizit, wiederholen Sie sich gelegentlich (z.B. Nomen wiederholen statt Pronomen verwenden).
-Zögern Sie auch beim Chatten nicht mit Rückfragen zum eigenen Verständnis und dem des Gegenübers. 

Und lassen Sie sich vor allem folgendes gesagt sein: Wenn ein wichtiges, emotionales Gespräch ansteht, dann will ich Ihnen als Sachverständiger raten, dass Sie es in den mündlichen Kanal verlegen und sich face-to-face treffen. Dann haben Sie alle Mittel für konstruktives und verständnisorientiertes Kommunizieren in optimaler Verfügbarkeit beisammen - und wenn wir uns schon da so oft missverstehen, wie soll das da erst im schriftlichen Kanal ausgehen? Mit den Vorteilen eines klassischen, mündlichen Gesprächs kann kein schriftliches Medium mithalten! Ich hoffe, das geht im elektronischen Zeitalter nicht vergessen. Long live the Mündlichkeit!

-Der Sprachbeschreiber

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